Die Geschichten vom bremsenden, umständlichen, gar lebensgefährlichen Datenschutz sind einfach nicht totzukriegen. Sie sind aber auch einfach zu praktisch, wenn man gerade mal von etwas ablenken muss, und bespielen zu viele Klischees, wenn man gerade mal ein Feindbild braucht. Mal ist es typisch deutsch, sich selbst unter so viel Bürokratie zu begraben, dass jeder Vorgang gelähmt wird, der nicht bei drei durchs Faxgerät gelaufen ist. Mal sind es die bösen EU-Bürokrat:innen, die uns mit der Datenschutz-Grundverordnung das Leben schwer machen.
Jüngster Interpret dieses Genres politischer Ablenkungsrhetorik ist Jens Spahn. Dass sich der scheidende Bundesgesundheitsminister in die Märchenstunde einreiht, kann nur jene überraschen, die sich in den vergangenen Jahren nicht mit seinem Schaffen und der Digitalisierung des Gesundheitssystems befasst haben. Denn schon 2016 vertrat Spahn, damals noch Staatssekretär im Finanzministerium, die These, Datenschutz sei „etwas für Gesunde“.
Nun trat Spahn im Interview mit dem Handelsblatt zu seiner vorerst letzten Abrechnung mit dem geliebten Feindbild an. Dabei vollbringt er das Kunststück, die Verantwortung für alles Gute sich selbst zuzuschreiben, die für alles Problematische den anderen.
Dank ihm gehe es bei der Digitalisierung endlich voran, findet der CDU-Politiker. „Bald“ würden alle Ärzt:innen die elektronischen Patientenakten befüllen können. „Bald“ werde es auch mit dem E-Rezept besser laufen. Spahn fabuliert von „KI-Software“, die bei der Befüllung der elektronischen Patientenakte unterstützen soll. Und wenn der böse, böse Datenschutz endlich aufhöre, einen „theoretischen Grundsatzstreit um nichts“ zu führen, würden die Lösungen dann auch sicher bald alltagstauglich.
Die Misserfolgsgeschichten des Jens Spahn
Seit 2018 fremdelte sich Spahn als Gesundheitsminister durch die Wirren der Digitalisierung. Dabei war er immer mehr auf Tempo bedacht als auf Gründlichkeit. Allzeit bereit, sein eigenes Versagen dem Datenschutz in die Schuhe zu schieben.
Dabei liegt es nicht am Datenschutz, dass die Testphase des E-Rezepts ein Reinfall war. Dass die Telematikinfrastruktur, das geschützte Netzwerk des Gesundheitssystems, immer wieder ausfällt und Praxen und Apotheken lahmlegt. Dass Krankenhäuser Cyberangriffen absolut gar nichts entgegenzusetzen haben und wochenlang von der Notfallversorgung abgekoppelt sind.
Es ist nicht die Schuld des Datenschutzes, dass „Apps auf Rezept“ Sicherheitslücken haben. Dass Impfzertifikate nicht fälschungssicher sind. Dass im Gesundheitsministerium achtzig Prozent der Stellen in der IT-Sicherheit über Monate unbesetzt bleiben.
Und auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber kann nichts dafür, wenn ihn Gesetzesentwürfe immer erst kurz vor der Abstimmung erreichen und er den Spielverderber mimen muss, weil ein Gesetz mal wieder nicht grundrechtskonform ist. Entgegen anderslautender Beteuerungen ist der Datenschutz auch nicht schuld an der durchwachsenen Pandemiebekämpfung.
Datenschutz ist kein Selbstzweck
Im Interview mit dem Handelsblatt klopft sich der Minister auf die Schulter, dass eine deutliche Mehrheit der Gesundheitsämter an die Software Sormas angeschlossen sei. Dabei lässt er unerwähnt, dass Meldungen über Corona-Infektionen zwar mittlerweile digital bei den Ämtern ankommen, die Meldungen zur neuen Maßzahl der Hospitalisierungen aber wieder nur per Fax eingehen.
In Spahns Äußerungen zeigt sich derweil ein Muster, mit dem Gegner:innen des Datenschutzes immer wieder argumentieren: Datenschutz als Selbstzweck, als Hobby von Querulantinnen und Digitalisierungsverweigerern. Als Sand im Getriebe, als Knüppel zwischen den Beinen der Innovatoren und Visionärinnen.
Diese Haltung geht gerade bei Gesundheitsdaten an der Lebensrealität all derer vorbei, die aufgrund einer Krankheit Diskriminierung erfahren haben. Vielleicht, weil sie unvernünftig waren, wie wir es bei unserer Gesundheit wohl alle mal sind. Vielleicht, weil sie eine psychische Erkrankung haben. Weil sie traumatisiert sind. Weil sie selbst über ihren Körper bestimmen wollen und das konservativen Männern nicht in den Kram passt. Vielleicht, weil viele Menschen einfach nicht wollen, dass Staat, Konzerne, die Öffentlichkeit oder wer auch immer über ihren Gesundheitszustand Bescheid wissen.
Die Aufopferung des medizinischen Personals
Wenn es mal nicht der Datenschutz ist, hat Spahn praktischerweise noch andere Schuldige entdeckt. So zum Beispiel die Ärzt:innen, denen die Digitalisierung schlicht „zu anstrengend, zu schnell und zu teuer“ sei. Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Ein Gesundheitsminister brüstet sich mitten in einer Pandemie und in Zeiten von rasant steigenden Fallzahlen immer wieder mit seiner erfolgreichen Pandemiebekämpfung. Das macht er daran fest, dass das Gesundheitssystem zu keiner Zeit überlastet gewesen sei.
Währenddessen berichten Ärzt:innen und Pflegekräfte von unzumutbaren Arbeitsbedingungen – nicht erst seit der Pandemie. Überlastung ist der Normalzustand des deutschen Gesundheitssystems. Das wird einzig und allein durch die Aufopferung des medizinischen Personals aufgefangen.
Und eben diesem Personal wirft derselbe Minister jetzt vor, für die Digitalisierung einfach zu bequem zu sein. Mal ganz abgesehen davon, dass nicht nur die vom Minister gescholtenen Ärzt:innen die Digitalisierung zu schultern haben, sondern auch und vor allem Pflegekräfte: Wie die Digitalisierung im Praxis- und Krankenhausalltag umgesetzt werden soll, überlässt Spahn der neuen Regierung. Sie solle doch bitte Geld in die Hand nehmen, um die Umstellung, die Schulungen und die IT-Sicherheit im Gesundheitswesen zu unterstützen. Mit anderen Worten: Um den Scherbenhaufen zusammenzukehren, den eine vollkommen übereilte Gesetzgebung aus dem Hause Spahn hinterlassen hat.
Ärzt:innen fordern Moratorium für Digitalisierung
Auf die Idee muss man erstmal kommen: Wir schreiben erst Digitalisierung für alle politisch vor und schulen das Personal dann irgendwann später. Kein Wunder, dass sowohl die Kassenärztliche Bundesvereinigung als auch der Deutsche Ärztetag ein einjähriges Moratorium für weitere Digitalisierungsmaßnahmen gefordert haben. Um sich zu besinnen, welche digitalen Dienste der Versorgung der Patient:innen und dem Praxisalltag überhaupt weiterhelfen, anstatt einfach nur umzusetzen, was technisch möglich sei.
Man könnte versucht sein, Spahns Interview als Nachtreterei abzutun. Ein Minister war während seiner Amtszeit mit der Realität konfrontiert und stört sich an ihr. Doch betrachtet man die (partei-)politischen Ambitionen, die Spahn immer wieder nachgesagt werden, muss man Sorge haben, was dieser Mann in einer zukünftigen Funktion noch so alles anstellen könnte.
DANKE!!!
Trifft den Kern des Üblen.
Besser kann man den Herrn Minister und seine Aktivitäten nicht beschreiben.Es wird das beschrieben was ich vor 4J ahren als Arzt schon befürchtet habe und was dann vom hyperaktiven
Minister(erst handeln und weder vorher noch nachher darüber nachdenken)auch so umgesetzt wurde.Politisch infame Argumente sind dabei nur der Gipfel des Ganzen.JZ
Spahn und Scheuer – zwei, die Gott jeden Tag stundenlang auf Knien danken müssten, dass die Pandemie – auf die eine oder andere Weise – von dem ganzen Mist ablenkt, den sie regelmäßig produzieren.
Die Vorstellung, einen oder beide – jung genug sind sie ja – irgendwann noch einmal in wichtige(re)n Ämtern zu sehen… Bitte nicht, auch wenn man natürlich nicht weiß, wer da so alles nachrücken mag in Zukunft.
So ist es, DANKE!
habe leider keinen zugriff auf das interview …
vorneweg: datenschutz mit innovationsverweigerung gleichzusetzen ist – wie im text beschrieben- ein no go.
aber:
ich stimme nicht in allem zu, ein etwas zu einfache anklageschrift, imho. spahn hat der digitalisierung in der tat einen sehr notwendigen tritt in den hintern verpasst. Im detail sicher deutlich ausbaufähig, aber erstmal muss man überhautp bewegegung rein bringen (nach 15 jahren!!!) ärzte maulen schon seit jahren über die digitalisierung, viele haben in der tat „keinen bock“ und verstehen überhaupt nicht, was damit gemeint ist. ärzte (meist stinkreich) sind Als „opfer“ unmenschlicher arbeitsbedingungen nicht mit pflegepersonal gleichzusetzen …
„Wie die Digitalisierung im Praxis- und Krankenhausalltag umgesetzt werden soll, überlässt Spahn der neuen Regierung“ …was soll er denn sonst machen? alles bis ins letzte regeln? geht gar nicht. und würde man es versuchen, würde sich gar nix bewegen. das ist bei der dsgvo nicht anders als beim khzg…sorry, die realität ist das meiner meinung nach komplexer als es sich die autorin hier vorstellt.
Nunja, den „stinkreichen“ (was hat das mit der Digitalisierung zu tun?) Ärzten den schwarzen Peter zuzuschieben, ist jetzt auch nicht gerade hilfreich. Auch Ärzte haben primär ein Interesse daran zu heilen und damit ihre eigentliche Profession auszuüben – und nicht ein immer größeres System von Verwaltungs_akten (bewusst doppeldeutig) zu füttern. Da würden einige gerne das Fax und die Schränke, bis zur Decke voll mit dicken Patientenakten, abschaffen.
Da findet in der Pandemie das Rosinenpicken an anderer Stelle statt: Jedem Arzt ist es freigestellt, ob und wie er an der Impfkampagne teilnimmt. D.h. so mancher lehnt sich zurück und beschäftig sich mit seinen paar Privatpatienten, während die anderen von einem Altersheim zum nächsten hetzen …
Jedenfalls hat die Ära Merkel gezeigt, dass eine Stm Bär dem Thema Digitalisierung nicht genügt. Es braucht einfach eine durchschlagskräftigere Kompetenz auf dem Gebiet: Mit dem Auftrag die (Netz-)Infrastruktur voranzubringen, die Produkte der anderen Ministerien kritisch zu prüfen (gerne auch unter Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure wie beispielsweise dem CCC), das BSI offensiver aufzustellen (z.B. Scheinangriffe auf kritische digitale Systeme zum Aufspüren von Schwachstellen) und und und …
Die Autorin schreibt das nicht einzig und alleine rückblickend, sondern hat das ganze Geschehen über die Jahre mitverfolgt und urteilt jetzt abschließend.
Wichtige Kritik hat Spahn immer und immer wieder ignoriert. Datenschutz greift er an einigen Stellen bewusst an – nicht einmal versehentlich, weil alles schnell gehen muss. Die CCC-nahe Haltung (die ihm übrigens bekannt ist) wäre gerade in diesem Bereich angebracht, da es sehr viel um Bürger, Gesundheitssystem und Forschung, aber sehr wenig um Wirtschaft geht, bzw gehen sollte.
Man darf halt auch nicht vergessen, dass Digitalisierung schlecht gemacht auch einen Rückschritt zu Fax und Papier darstellen kann. Wenn meine Daten im offenen Netz landen und ich dadurch stigmatisiert werden, bringt mir das gar nichts. Dann wäre ich sogar froh, wenn alles weiter mit Fax gelaufen wäre.
Außerdem hat Spahn gleiches bei Jung und Naiv abgezogen. Im Interview stellt er sich als den super guten Gesundheitsminister dar. Er spielt den Schuldball unter anderem den Pflegekräften zu, während in anderen Interviews von Tilo Jung, bzw Hans Jessen mit Pflegekräften die ganzen Probleme offengelegt werden, die konkret von Spahns Politik ausgehen.
Spahn hat das Urteil schon verdient. Auch wenn er etwas positives gemacht haben sollte, so fällt die Gesamtbilanz schon sehr negativ aus.
Die Herausforderung in Sachen Digitalisierung beginnt immer mit der Notwendigkeit, eine gut stukturierte, transparente und effizienten Kommunkation der Beteiligten untereinander zu etablieren und darauf aufbauend Abläufe zu standardisieren. Erst wenn dies praktiziert wird, können die Abläufe in digitale Struktren engebettet werden. Leider werden die beiden Schritte in der Regel miteinander vermischt und der – ach so komplexen und herausfordernden (stöhn) – Digitalisierung die alleinige Schuld gegeben.
Ich freue mich, bei der Gelegenheit von der Moratoriums-Forderung der Ärzteverbände zu erfahren. Es wird meiner Meinung nach viel zuviel durchgedrückt, ohne zu fragen, ob es den Menschen nützt. Tech ist wie Pharma ein Treiber mit Profitinteressen, „Gesundheit“ ist noch immer ein erfolgversprechender Markt, wenn andere schon wegbrechen oder gesättigt oder nicht mehr lukrativ sind. Sind wir — in dem Fall ÄrztInnen und PatientInnen — nur noch dazu da, Business-Pläne zu erfüllen?
Der Zwang zur Vernetzung sämtlicher persönlichen Daten zeigt doch, was er vom Selbstbestimmungsrecht hält.